Operation Libero Europa

Europa: Myth Busters

9 Mythen über Europa

Das ungeklärte institutionelle Verhältnis zur EU ist das grösste strukturelle Risiko für den Werk- und Forschungsplatz Schweiz. Doch statt sich den grossen Herausforderungen zu stellen, finden Bundesrat und Parteien immer wieder neue Wege, den Tag der Wahrheit weiter und weiter hinaus zu schieben. Die Debatte steckt in der Sackgasse.

Leider ist der Europadiskurs in der Schweiz von viel zu vielen Falschinformationen und Fehleinschätzungen geprägt, die eine konstruktive Debatte bisweilen erschweren oder sogar verunmöglichen.  Deswegen möchten wir diese Mythen hier entkräften – denn wir brauchen dringend einen faktenbasierten, konstruktiven Europadiskurs, der aufzeigt wie dieses grosse strukturelle Risiko beseitigt werden kann!

Die EU wird immer wieder dafür kritisiert, dass in Brüssel scheinbar ein riesiges Machtzentrum entstanden ist, in dem alles entschieden wird, von der Frage, welche Flüchtlinge in Lampedusa an Land gelassen werden müssen bis zu der Frage, wie lange eine “Nuggikette” sein darf.

Tatsächlich ist es aber so, dass die EU nur dann in einem Bereich aktiv werden kann, wenn alle Mitgliedstaaten einstimmig eine Kompetenz an sie abgetreten haben. Einstimmig. Das ist sonst in zentralistischen Gebilden anders. Anders gesagt: Die EU hat in vielen Dingen, die ganz Europa angehen würden, keine Kompetenzen. In der Verteidigungspolitik etwa. Und wenn es keine EU gäbe, dann gäbe es in Europa auch Machtzentren. Wie früher auch, würde in diesem Fall praktisch alle Macht in der Hauptstadt der mächtigsten Militär- und Wirtschaftsmacht des Kontinents zusammenlaufen, also in London oder in Paris oder in Berlin. Das wäre natürlich noch viel zentralistischer, weil die kleinen Staaten und jene an der Peripherie der Macht dann gar nichts mehr zu sagen hätten. So aber, in der EU, sind sie wenigstens Teil eines Europäischen Rates und des Parlamentes. Sonst wären sie einfach schierer Macht ausgesetzt. 

Immer wieder wird unterstellt, dass die EU enorm bürokratisch sei. Zu einer riesigen Armee von Beamt*innen komme eine riesige Armee von Lobbyist*innen, und als Resultat davon soll die EU unglaublich viele Regeln produzieren, oft zu sehr technischen Fragen, wie der Frage, welche Giftstoffe in einem Nuggi nicht enthalten sein dürfen – wobei aber die Vertreter der EU zu den grossen Fragen nichts zu sagen haben.

Europa wäre aber viel bürokratischer, wenn es keine EU gäbe. Dann müsste man nicht 1 Mal 90 Seiten Normmaterial einhalten, um einen Nuggi auf den Markt zu bringen, sondern 27 Mal (nämlich für jeden Mitgliedstaat) etwa 50 Seiten Normmaterial, also weit über tausend Seiten. Diese nationalen Normen würden aber voneinander abweichen und wären alle von dem Interesse geschrieben, lokale Anbieter vor ausländischen Konkurrenten zu schützen. Europa wäre kreuz und quer durchzogen von Marktzugangshindernissen. Das hat die EU überwunden. Sie ist daher möglicherweise das grösste Bürokratieabbauprojekt in der Geschichte der Menschheit.

In der EU geht nichts ohne Deutschland. Der Economist hat Deutschland in Brüssel gar mit dunkler Materie verglichen – diese ist unsichtbar, aber überall, und hält alles zusammen. Die EU ist somit in den Augen vieler Kritiker*innen ein zutiefst deutsches Projekt und zweifelsohne eine Möglichkeit für Deutschland, seinen Einfluss in Europa zu sichern und zu stärken.

Überlegt man sich aber, wie es wäre, wenn es die EU nicht gäbe, dann wird schnell klar, dass der Einfluss von Deutschland noch viel grösser wäre. Denn, ob mit oder ohne EU: Deutschland ist nun mal die grösste Volkswirtschaft und das bevölkerungsreichste Land auf dem Kontinent. Würde es die EU nicht geben, wäre Deutschland ein kontinentaler Hegemon und würde selbst die Regeln festlegen, für alle, die zu dieser Volkswirtschaft Zugang wollen. Es wäre wohl vergleichbar mit der Dominanz der USA auf dem amerikanischen Kontinent oder derjenigen Chinas auf dem asiatischen Kontinent (und zunehmend auf der ganzen Welt). Dank der EU muss aber Deutschland seine grosse Macht in Europa teilen und gibt die Regeln nicht einfach alleine vor. Stattdessen arbeitet es zwar als mächtiger Player an einem Kompromiss mit, muss aber den Kompromiss am Ende akzeptieren.

Immer wieder hört und liest man, dass die EU undemokratisch sei. Zwar habe sie ein Parlament, das direkt von ihren Bürgerinnen und Bürgern gewählt wird, und einen Rat, der sich aus direkt gewählten Regierungen zusammensetzt. Das eigentliche Machtzentrum der EU, die Kommission, wird aber weder vom Volk noch direkt vom Parlament gewählt. Das Parlament hat auch kein Initiativrecht. All das sind in den Augen vieler Kritiker*innen klare Demokratiedefizite.

Noch viel weniger demokratisch wäre hingegen ein Europa ohne EU. Denn die vielen technischen Fragen, welche heute die EU entscheidet, müssten auch sonst gemeinsam entschieden werden, wenn Europa auch ohne EU ein globalisierter, industrialisierter Kontinent mit möglichst wenig Marktschranken sein wollte. Sie würden dann einfach in Gremien entschieden, die nicht nur Demokratiedefizite hätten, sondern die überhaupt nicht demokratisch legitimiert wären. In der Regel wären es technische Expert*innen in den Ministerien des mächtigsten europäischen Staates, die die Standards für alle anderen vorgeben.

Das Bild, das viele Menschen von Europa haben, ist geprägt von der (gefühlt traditionellen, tatsächlich aber falschen) Vorstellung, dass jedes europäische Land seine ganz eigene Identität hat. Italien war und ist eben Italien, mit aller Italianità! Und Frankreich ist Frankreich, wo es zumindest früher  Schnecken und Frösche zu essen gab!  Ob in den Ferien, im Europapark, bei der EM oder am Eurovision-Songcontest: Alle Länder Europas sind einzigartig, haben ihren eigenen Charakter, ihre eigene Mentalität und sind auf ihre eigene Art liebenswert. Vor diesem Hintergrund erscheint vielen Europa heute als Einheitsbrei, von der Algarve bis ans Nordkap, von der Bretagne bis fast nach St.Petersburg. Überall die gleichen Fahnen, die gleichen Subventionen, die gleiche Währung.

Denkt man aber etwas weiter als bloss an Sportturniere und in Klischees, dann findet man rasch, dass die meisten europäischen Staaten Kolonialmächte waren. Sie waren also nicht einfach Nationalstaaten, sondern haben davon gelebt, andere Weltgegenden auszubeuten. Das ist die andere Möglichkeit, einen Binnenmarkt zu errichten als jene, die später die EU mit gemeinsamen Institutionen bewerkstelligt hat. Man zwingt den anderen einfach die eigenen Regeln auf. So sind Frankreich, Grossbritannien, Spanien, Portugal, Holland, Belgien, Russland, Österreich-Ungarn und relativ spät auch Italien und Deutschland zu Reichtum und Macht gekommen – bevor ihr Kolonialismus sie in einen gegenseitigen Krieg trieb (Übrigens: Auch die Schweiz hatte ihren Anteil am Kolonialismus). Oft lagen ihre Kolonialgebiete in Europa selber. Sie haben sich den Balkan, Osteuropa, Irland und das Baltikum untereinander aufgeteilt und voneinander zurückerobert. Als nach dem 1. Weltkrieg viele dieser Gebiete ihre Unabhängigkeit erlangten und zum ersten Mal in ihrer Geschichte tatsächlich Nationalstaaten waren, dauerte es 20 Jahre, bis sie wieder erobert und aufgeteilt wurden. Unter neuen Imperien. Gäbe es die EU nicht, es wäre unwahrscheinlich, dass diese Staaten heute tatsächlich als Nationalstaaten bestünden. Sie wären, was sie zuvor in der Geschichte stets waren: Kanonenfutter für Grossmachtsinteressen. Nun sind sie Teil einer Grossmacht.

Ein gerade jetzt wieder oft gehörter Vorwurf an die EU ist, dass sie in Verhandlungen mit der Schweiz ihre eigenen Interessen durchsetzen will. Dafür soll sie sogar soweit gehen, dass sie politischen Druck macht und unterschiedliche Dossiers miteinander verknüpft, was mit unserer Souveränität nicht vereinbar sei. Entsprechend plädieren viele Kritiker*innen dafür, uns andere Partner zu suchen, die es sich gewohnt sind, mit anderen Staaten auf Augenhöhe zu verhandeln, statt wie die EU ihre eigene Position für ein Power Play auszunutzen – als Beispiele solcher Staaten werden dann etwa China, Russland oder die USA erwähnt.

Nüchtern betrachtet muss man aber eingestehen, dass Macht, wenn man sie einmal hat, verführerisch ist, und darum nicht nur von der EU eingesetzt wird, um die eigenen Interessen zu verfolgen – auch die Schweiz würde wahrscheinlich ihre Verhandlungsposition ausnutzen, wenn sie könnte. Das sieht man daran, wie die Schweiz überall dort, wo ein Arrangement in ihrem Interesse wäre, versucht hat, dieses herbeizuführen, und sich dabei manchmal durchgesetzt hat. 

Weiter ignoriert diese Kritik die Tatsache, dass auch alle anderen potentiellen Partner der Schweiz grosse Machtblöcke sind, die ihre Interessen sehr gut durchzusetzen wissen. Bei den USA wissen wir das seit langem und haben es etwa im Umgang mit dem Bankgeheimnis selber erfahren. Russland und China gehen noch unzimperlicher vor. Im Unterschied zur EU sind sie autoritäre Gebilde, in denen es schwierig ist, die Gewaltenteilung zu nutzen, um sich Gehör zu verschaffen, etwa, indem man an ein Gericht oder an das Parlament gelangt. Je vertiefter unsere wirtschaftlichen Beziehungen zu einem anderen Partner als zur EU wären, desto eher sähen wir wohl auch, dass es naiv ist zu glauben, ein übermächtiger Machtblock würde auf Augenhöhe verhandeln. Der Unterschied zwischen der EU und ihren Alternativen ist (abgesehen von der geografischen Nähe), dass wir mit der EU ein Vertragswerk haben, das ihr Powerplay bändigt, und dass sie sich aus Demokratien zusammensetzt. Es ist wichtig, dass wir uns unsere faktische Abhängigkeit von der EU eingestehen. Es ist aber auch wichtig zu sehen, dass sie die freundlichste Grossmacht ist, von der man abhängen kann.

Scheinbar steckt die EU andauernd in Krisen – im Moment sind das die COVID-19-Krise, die Flüchtlingskrise, die Schuldenkrise, die Finanzkrise und die Euro-Krise. In jeder neuen Krise scheint die EU aufs Neue eine lausige Falle zu machen, da sie sich intern nicht einigen könne und nichts auf die Reihen kriege. Am Ende schicken dann immer andere die Hilfe, etwa die Russen oder Chinesen, während Brüssel weiterschwatzt.

Ohne die EU wären es aber die einzelnen Staaten, statt eine unvollkommene Union, die sich mit den genannten Krisen abgeben müssten. Die hätten dann z. B. einfach ihre Währungen entwertet und so ihre Sparer*innen enteignet. Und die Flüchtlinge hätten sie einfach in ein anderes europäisches Land weitergeschickt, das dann wieder nicht zuständig gewesen wäre, sodass nicht nur die humanitäre Krise noch viel tiefer gewesen wäre, sondern auch eine diplomatische Krise aus der Flüchtlingskrise entstanden wäre.

In der Covid-Krise wären die am schwersten betroffenen Staaten wohl nicht nur zu Beginn ganz auf sich allein gestellt gewesen, sondern auch bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Krise. Wer weiss, ob in allen europäischen Staaten, auch in jenen, die von den verschiedenen Krisen am heftigsten betroffen waren, die Demokratie vor der Versuchung des Autoritären zu retten gewesen wäre, oder ob die Demokratie gegen die Politik der harten Hand verloren hätte, ähnlich wie in den 20er- und 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts? Es stimmt also schon, dass die EU in Krisen nie sehr gut dagestanden ist. Aber die entscheidendere Frage ist: Wären ihre Mitgliedstaaten, auf sich alleine gestellt, besser dagestanden? Dafür spricht nichts.

Immer wieder wird angezweifelt, dass die EU ein Friedensprojekt und in dieser Funktion nötig sei. Schliesslich zwinge sie die europäischen Staaten miteinander zu streiten anstatt sich gegenseitig in Ruhe zu lassen, und heute herrsche im Gegensatz zu früher ein gesunder Patriotismus vor, der keine Kriegstreiberei mehr beinhalte.

Hier wird aber übersehen, dass früher die Umstände anders waren. Die grossen Machtverbände in Europa waren alle expansiv und aggressiv und mussten das sein, weil die anderen es auch waren und weil die Interessen der Wirtschaft nach neuen Märkten und neuen billigen Arbeitskräften verlangten. Wenn man es sich richtig überlegt, war das Problem nicht, dass die Leute damals nicht gesehen hätten, auf was für eine Katastrophe sie zusteuerten. Es war, dass sie nicht die Mittel hatten, diese Katastrophe abzuwenden. Was sie gebraucht hätten, wären gemeinsame politische Institutionen gewesen, die Konflikte – die immer unvermeidbar sind – politisch statt durch ein Wettrüsten hätten lösen können und neue Märkte hätte erschliessen können, ohne dass neue Regionen hätten erobert werden müssen – also etwa durch die Integration in einen Binnenmarkt. Was sie gebraucht hätten, wäre eine Art europäischer Vereinigung oder Bund oder Union oder wie immer man das dann genannt hätte. Dann hätte auch die Mentalität der Kriegstreiber keine Chance gehabt. So, wie sie heute keine Chance hat.

Die EU als kalte, unnatürliche Kopfgeburt einer kleinen, arroganten, kosmopolitischen Elite (die nichts als Profitstreben im Kopf hat), wird notwendigerweise untergehen, wie alle grossen Machtgebilde vor ihr – so oder ähnlich sehen das jedenfalls viele EU-Kritiker*innen. Ihrer Meinung nach gehört stattdessen die Zukunft den kleinen, organisch gewachsenen, natürlichen Kleinstaaten, die durch eine einheitliche Sprache, eine einheitliche Religion und eine einheitliche Geschichte ein unverbrüchliches Zusammengehörigkeitsgefühl verbindet.

In Tat und Wahrheit sind aber viele Nationalstaaten künstliche Gebilde, die am Verhandlungstisch entstanden sind. Alle Afrikanischen Staaten etwa, oder Ungarn oder die Slowakei, oder Tschechien oder Polen, die alle Zerfallsprodukte grosser Imperien sind. Das Extrembeispiel eines solchen Staates vom Verhandlungstisch ist aber gerade die Schweiz, die an der Konferenz von Westphalen und am Wiener Kongress entstanden ist, durch den Willen der europäischen Aussenminister der Zeit.

Umgekehrt gibt es sehr grosse Machtgebilde, die einen langen Bestand hatten und haben. Das römische Reich etwa hat für Jahrhunderte bestanden, ehe es unterging, und als die USA so alt waren, wie die EU jetzt, wären sie von einem Bürgerkrieg fast zerrissen worden, weil dieser riesige Machtblock mit der Ursünde der Sklaverei gegründet worden war. Ein solches Risiko droht der EU momentan nicht. Vielmehr wurde sie bisher von Krise zu Krise etwas tiefer integriert und hat etwas stärkere Institutionen erhalten.

Es gibt mehr Mythen zur Europapolitik als die EU Mitgliedstaaten hat. Wir haben die neun wichtigsten für dich zusammengestellt. Und hoffentlich konnten wir dir aufzeigen, dass Europa in Tat und Wahrheit das erfolgreichste Friedens- und Freiheitsprojekt der Welt ist:

  • Die EMRK schützt Menschenrechte europaweit. 
  • Die EU gewährt persönliche und wirtschaftliche Freiheitsräume. 
  • Sie fördert die Durchsetzung von Grundrechten über Grenzen hinweg. 
  • Sie sorgt auch für Sicherheit und Stabilität in der Schweiz, indem sie für die längste Friedensperiode unter unseren Nachbarstaaten verantwortlich ist. 

Die Schweiz liegt mitten in Europa, ist und bleibt Teil von Europa und hat daher grosses Interesse an guten Beziehungen in und zu Europa und zu den europäischen Institutionen. Die Mitgliedstaaten der EU sind und bleiben die wichtigsten Handelspartner der Schweiz und unsere offene, exportorientierte Wirtschaft profitiert in hohem Masse von einer Teilnahme am europäischen Binnenmarkt.

Aus diesen Gründen wollen wir, dass in der Schweiz Europapolitik stattfindet – und zwar aktiv und ohne Angst. Die Debatte muss raus aus der Sackgasse.

Lies unsere Europa-Position und sag uns, wie wir im Europadossier einen Schritt weiterkommen:

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